Praktisch jeder Läufer hat schon vom sagenumwobenen Iten gehört, wo ein Größteil der kenianischen Laufübermacht seit Jahrzehnten geformt wird. Aber nur die Wenigsten haben das Privileg, diesen Ort live zu sehen. Dementsprechend groß war dann natürlich meine Vorfreude, als sich meine Trainingsgruppe zusammen mit dem DLV für ein Kenia-Trainingslager entschied.
Da ich beim Berliner Halbmarathon am 3. April starten möchte, musste ich allerdings ein wenig improvisieren: Der Hauptteil der Athleten wollte erst Anfang März nach Kenia reisen. Für mich war der Termin aber etwas zu spät, weil ich eine zwölftägige Rückanpassung nach dem Aufenthalt in der kenianischen Höhe eingeplant habe und dann nur drei Wochen in der Höhe verbringen könnte. Zum Glück bot mir mein Teamkollege Raphael Stedler eine Option an: Nachdem er im nahe gelegenen Eldoret ein Jahr lang als Freiwillger an einer kirchlichen Schule Deutsch unterrichtet hatte, wollte er die Möglichkeit nutzen, seinen alten Freunden einen Besuch abzustatten. Und so quartierten wir uns circa eine Woche lang im „Father’s House“ des „Mother of Apostels Seminary“ ein, bevor es nach Iten ging.
Es war eine gute Entscheidung: Erstens liegt auch Eldoret in einer anspruchsvollen Höhe von 2100 Metern und bot mir eine tolle Gelegenheit, mich schrittweise ans kenianische Hochland zu gewöhnen. Zweitens hatten wir in Eldoret einen viel intensiveren Kontakt zu den Einheimischen, da Raphael dort viele Kontakte hatte. Im Gegensatz zu den in der Schule untergebrachten Schülern, mussten wir zum Glück nicht um 4 Uhr morgens aufstehen und hatten nicht bis 22 Uhr (!) Unterricht. An den meisten Tagen waren wir bei befreundeten Familien eingeladen und erkundeten zwischen den anfangs noch moderaten Trainingseinheiten die Stadt, in der es scheinbar keine Verkehrsregeln gab.
Diese Erfahrungen möchte ich nicht missen und hätte sie im Hotel in dem Maße nicht sammeln können. Eine deutlich aufregendere Art, die Höhenpassung zu gestalten, als nur im Hotel zu sitzen. Drittens sind auch in Eldoret enorm leistungsstarke Trainingsgruppen vor Ort: Direkt vor dem Tor unserer Schule traf sich die Trainingsgruppe vom ersten Läufer der Welt, der die 10 000 Meter unter 27:00 lief – Yobes Ondieki. In der Gruppe wimmelte es von sub 2:10 Marathon-Läufern mit denen ich am vierten Tag in Kenia eine ruhigen 22 Kilometer- Dauerlauf absolvieren konnte. Ein Lauf zusammen mit 20 Spitzenathleten!
Dann ging es endlich hoch nach Iten, ins „Home of Champions“. Schon am Ortseingang durchquert man einen Bogen mit selbigen Schriftzug. Hier scheint eine besondere Motivation zu herrschen, ein Champion zu werden. Doch bevor ich meinen ersten Lauf an diesem Ort machen konnte, musste ich erstmal ins Hotel einchecken, in dem ich auf meine Wattenscheider Trainingsgruppe traf. „Kerio View Hotel“ – es macht seinem Namen alle Ehre. Vom Speisesaal aus hat man einen traumhaften Blick über das Rift Valley, der durchaus mit dem Grand Canyon View mithalten kann. Auch das Essen ist im Vergleich zum „Father’s House“ in Eldoret noch einmal deutlich luxuriöser, obwohl wir auch in Eldoret unglaublich gastfreundlich aufgenommen wurden. Die Zimmer sind in einem guten Zustand und ein Kraftraum befindet sich auf der Hotelanlage, sodass die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Trainingslager kaum besser sein könnten.
Doch die ersten Dauerläufe holten mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. In Eldoret war ich schon recht gut an die 2100 Meter Höhe angepasst und konnte Dauerläufe in 3:45 pro Kilometer problemlos laufen. In Iten auf 2400 Metern Höhe war zunächst alles anders. Schon beim Gehen war ich anfangs völlig aus der Puste und ein Kilometerschnitt von 4:30 Minuten wurde zu einer riesigen Herausforderung. Es gibt hier keine Strecken, die nicht stark profiliert sind. Hinter jeder Kurve lauern Berge, die es bei uns im Ruhrpott nicht gibt und die tägliche Hitze tut ihr Übriges. An den schlimmsten Steigungen stieg das Tempo auf 5:30 Minuten pro Kilometer!
Auch wenn dieser Zustand von Tag zu Tag besser wurde, musste ich lernen, mich von den gewohnten Laufzeiten zu verabschieden und viel mehr auf mein Gefühl zu achten und eine zweite, viel unangenehmere Lektion lernen: Zu Verlieren! Während ich in Deutschland die meisten Dauerläufe kontrolliere, geht es hier in erster Linie ums Anschluss Halten! Fast jeder Kenianer in der Stadt würde zur deutschen Spitze gehören und auch auf deutscher Seite sind einige erfahrene Kenia-Fahrer vor Ort, wie Manuel Stöckert und Arne Gabius. Selbst an einer Tankstelle lassen sich Kenianer fürs Tempomachen „mieten“, die über Halbmarathonzeiten von 65 Minuten nur müde lächeln. Bei Geschwindigkeiten von 4:20 pro Kilometer abreißen zu lassen, bin ich nicht gewohnt. Jetzt, gegen Mitte des Trainingslagers scheint aber auch bei mir die Anpassung voranzuschreiten.
Trotz der harten Bedingungen versprüht Iten eine faszinierende Magie. Morgens um 6:15 Uhr sammeln sich Hunderte Athleten in Gruppen und absolvieren ihren ersten Dauerlauf des Tages. In solch einer Gruppe zu laufen, war eine großartige Erfahrung – Kuhhrden und Schafe inklusive. Häufig begleiten mich kleinste Schulkinder bei den Dauerläufen und gehen dabei jedes Tempo für eine überraschend lange Zeit mit. Auffällig ist, dass die vielen Eliteathleten eine besondere Fähigkeit haben: Auch langsam laufen zu können. Während es morgens häufig schon gemächlich zugeht, laufen die Kenianer nachmittags auf den ersten Blick absurde Kilometerschnitte von weit über 6 Minuten! Ein regenerativer Ansatz, den ich bei Europäern und Amerikanern noch nie gesehen habe.
Im Kontrast dazu stehen hingegen die Bahneinheiten, Fartleks und harten Dauerläufe, bei denen haarsträubende Programme gelaufen werden, die für mich vor allem in der Höhe (noch) nicht möglich sind. Rappelvoll ist das Kamariny-Stadion vor allem dienstags, wenn nicht dutzende, sondern hunderte Kenianer gleichzeitig auf der Bahn sind. Trotz der großen Geschwindigkeitsunterschiede kommt es dabei nie zu Streitigkeiten, wer die schnellste Spur benutzen darf und sogar Ziegen werden auf der Innenbahn geduldet. Eine der Spitzengruppen vor Ort lief einen 40 Kilometer-Dauerlauf bei einem verrückten Streckenprofil in 2 Stunden und 14 Minuten. Selbst Arne Gabius durfte dort nicht mitlaufen!
Schon jetzt, bei „Halbzeit“ des Trainingslagers ist Iten eine einmalige Erfahrung für mich und ich habe schon eine erfolgreiche und lehrreiche 200 Kilometer- Woche hinter mir. Am Dienstag geht es dann auch für mich auf die Bahn und ich bin gespannt, wie ich mich in der Läufermasse behaupten kann.
HIERgeht's weiter zum zweiten Teil.